… solltest du – vor allem wenn du Berufsanfänger bist – allen „innovativen“ pädagogischen bzw. didaktischen Konzepten gegenüber stehen. Bedenke, dass das Meiste, was heute als der (Unterrichts-) Weisheit letzter Schluss gehandelt wird, morgen schon wieder kalter Kaffee ist, der von noch innovativeren Innovationen abgelöst wird.
Glaubst du mir jetzt wahrscheinlich nicht, oder? Hier mal eine kleine Auswahl von Innovationen aus meinem Paukerleben.
Fangen wir mit der hoch gejubelten Technik an: Sprachlabor, Fernsehen, Video, Computer, Notebooks, Netbooks, Moodle, Blogs, Whiteboards, Tablet PCs bzw. derzeit natürlich das iPad. Google einfach mal nach ‚ipad change education‘ (oder learning) und du bekommst Dutzende von Artikeln (wie diesen hier), in denen (wieder mal) der große „Paradigmenwechsel“ verkündet wird. Nichts mehr wird so sein wie früher …, wer sich jetzt nicht sofort mit dem neuesten Gerät / der neuesten Software vertraut macht, wird ein hoffnungsloser Loser sein, der seine Schüler nur noch langweilen wird … dank der neuesten Technik werden Schüler wahnsinnig motiviert sein, werden begeistert selbständig / autonom / eigenverantwortlich … Ach je, wie oft habe ich das inzwischen schon gelesen.
Oder nehmen wir pädagogisch-didaktischen Bereich. Da hatten wir z.B. den „kommunikativen“ Unterricht, Freiarbeit, Lernzirkel, programmiertes Lernen, Stationenlernen, NLP, handlungs- bzw. schülerzentrierten (bzw. – orientierten) Unterricht, ein kaum mehr überschaubares Sammelsurium von Unterrichtsmethoden wie placemat activities, Kugellagerübungen und Fishbowl-Diskussionen, Projektunterricht, Kompetenzorientierung usw. Fast jede dieser Methoden trat bzw. tritt mit dem Anspruch auf, dass wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass sie ganz klar allen anderen Unterrichtsformen überlegen sei und dass dank ihrer die Schüler in Zukunft …
Leider sind Fachzeitschriften bei der Beurteilung der neuesten Innovationen oft wenig hilfreich, denn in ihnen wird fast alles immer positiv dargestellt. Bedenke, dass auch die Herausgeber/Verleger wie die Autoren der betreffenden Beiträge (genauso wie die Pädagogikprofessoren und ‑autoren) dem „publish or perish“ Zwang unterliegen. Das Publikum lechzt nach Innovationen, keiner will lesen, dass Sprachen lernen eine über weite Strecken zähe und mühsame Angelegenheit ist, bei der man einfach arbeiten muss.
Hier mal zwei praxiserprobte, ganz handfeste Kriterien, anhand derer du den Wert „innovativer“ Techniken bzw. Methoden ganz persönlich für dich feststellen kannst:
Wieviel (Mehr-)Arbeit bedeutet diese Innovation ganz konkret für mich?
„Binnendifferenzierter Unterricht“, „individuelle Förderung“, „persönliche Evaluation“ etc. klingen alle ganz wunderbar, nur wird dir in den seltensten Fällen ehrlich gesagt, dass am Ende fast immer ein Haufen Mehrarbeit damit verbunden ist. Erinnerst du dich noch an die große Freiarbeit Euphorie vor ein paar Jahren. Und weißt du auch noch, wie lange du gehockt bist, Material gesucht hast, getippt, gescannt, bearbeitet, kopiert, laminiert und geschnippelt hast? Hat dir das irgendjemand vorher gesagt?
Manchmal geht die individuelle Förderung ja soweit, dass jeder Schüler sein eigenes Arbeitsblatt bekommen sollte. Als Pädagogikprofessor und Autor von Didaktikbüchern kann man das leicht fordern, man muss es ja schließlich nicht selber umsetzen. Bedenke, dass die meisten Innovationen nur höchst selten in normalen Schulen getestet wurden. Falls überhaupt, dann nur unter guten Bedingungen, wie in kleinen Klassen, mit besonders motivierten Schülern usw.
Wie kompatibel sind diese Innovationen mit meinem gesunden Menschenverstand und meiner Alltagserfahrung?
Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, wenn die eigene Schulzeit noch nicht allzu lange zurückliegt, das hilft gegen die später automatisch einsetzende Selbstidealisierung („Also wir waren als Schüler ganz anders …“).
Zum zweiten ist es nützlich, wenn man bereits eigene Kinder hat, die machen nämlich immun gegen hochfliegende pädagogische Konzepte. Nehmen wir als konkretes Beispiel mal das derzeit aktuelle Kompetenz-Gedöns.
Hier mal ein Zitat aus einer offiziellen Bekanntmachung (bzw. wie es bei uns in Bayern so schön heißt Verkündigung):
Kompetenzen sind unerlässlich, um fachliche, methodische, persönliche und/oder soziale Herausforderungen zu meistern. Sie werden grundsätzlich nicht durch die Lehrkraft vermittelt, sondern durch eigenes Handeln in einem allmählichen Prozess des Erkennens, Anwendens, Übens und Beherrschens vom Lernenden selbstständig aufgebaut.
Wow, das ist doch mal was. Es wird grundsätzlich nicht erwünscht, dass der Lehrer etwas „vermittelt“, der Schüler soll „selbständig etwas aufbauen“. Jetzt nehmen wir mal die Selbst-sein-Zimmer-aufräum-Kompetenz von Kindern. Zweifellos handelt es sich hier um ein große „persönliche Herausforderung“, denn es ist einfach deutlich angenehmer alle Klamotten auf den Boden zu pfeffern und darauf zu vertrauen, dass die Mama das Zeug schon irgendwann aufheben und aufräumen bzw. waschen wird. Die Eltern, bzw. wohl am häufigsten die Mutter, darf diese Kompetenz nun aber auf keinen Fall „vermitteln“, das Kind soll sie sich autonom / eigenverantwortlich aneignen.
Jetzt gehen wir mal davon aus, dass Wörter lernen, Grammatik üben und Aufsätze schreiben für unsere Schüler in etwa so spannend ist wie Zimmer aufräumen. Hast DU dein Zimmer freiwillig aufgeräumt bzw. machen DEINE Kinder das, ohne Androhung von Fernseh‑, Computerspiel- oder Facebook-Verbot?
Bleib gelassen, wenn deine Schüler keinen Bock haben „durch eigenes Handeln in einem allmählichen Prozess des Erkennens, Anwendens, Übens und Beherrschens“ etwas zu lernen. Du hättest das in ihrem Alter auch nicht gemacht, wenn es nicht gerade dein Lieblingsfach bzw. ‑lehrer gewesen wäre. Konzentrier dich lieber darauf guten Unterricht zu machen.
Max
Karikatur zum Thema: „Zauberwort soziale Kompetenz“
http://www.wiedenroth-karikatur.de/02_WirtKari070807.html
Monika Niemann
95% Zustimmung! Wie ein großer deutscher Politiker einmal sagte: „wichtig ist, was hinten rauskommt!“.
Vieles ist heiße Luft und besteht nicht den Nachhaltigkeitstest.
Bestimmte Arbeits- und Sozialformen in Bausch und Bogen zu verdammen, halte ich allerdings für ebenfalls problematisch.
Es gibt Situationen, wo ein sogenanntes „Kugellager“ toll funktioniert (Einschleifen von Grammatikstrukturen).
Eine Gallery Walk (landläufig als „Museumsgang“ bezeichnet) kann eine tolle Methode sein, möglichst viele Schüler zum Sprachgebrauch zu animieren.
Homöopathisch eingesetzt ergänzen viele der Arbeits- und Sozialformen den altbekannten Unterricht. Als Selbstzweck sind sie allerdings tödlich.
Für mich als Realschulehrerin, die ja eine richtig große Bandbreite von Schülern verschiedener Fähigkeiten verarzten muss, ist differenziertes Arbeiten Brot- und Buttergeschäft.
Den Unterricht meiner Tocheter an einem Gymnasium betrachtend wünschte ich mir oft, dass die Lehrkräfte dies etwas ernster nähmen und der Verschiedenartigkeit vor dem Hintergrund eines Grundkonsenses an Fertigkeiten mehr Raum ließen.
Dass individuelle Förderung bei den derzeitigen Klassengrößen eine Nebelwand der Bildungspolitiker ist, dürfte jedem klar sein. Das darf allerdings kein Grund sein, sich diesem Thema so gar nicht zu widmen, es geht auch mit kleinem Aufwand.
Jochen
> Bestimmte Arbeits- und Sozialformen in Bausch und Bogen zu verdammen, halte ich allerdings für ebenfalls problematisch.
Nichts läge mir ferner und ich experimentiere ja auch gerne immer mal wieder herum. Was mir allerdings erheblich auf die Nerven geht, ist der Anspruch, mit dem viele „innovative“ Konzepte daherkommen. Alles was man bisher gemacht hat, war Murks und jetzt kommt die allein seligmachende Methode.
David Gerlach
Aus der Situation, dass ich gerade mein Referendariat erfolgreich beendet habe, kann ich über deinen Beitrag schmunzeln. Dass einige Forderungen „neuer Didaktik“ und teilweiser Hochtechnisierung lediglich eine Mode sind und gerade im Referendariat unnötig belasten (bei dem sowieso enormen Druck), habe ich schon relativ schnell gemerkt und bewusst gegengesteuert. Das Traurige ist leider, dass manche Kolleginnen und Kollegen sich oft von Trends vereinnahmen lassen und gerade dann genau den Blick für die Schüler verlieren, weil sie von sich selbst und ihrem Unterricht zu viel wollen.
Die Schere zwischen effektivem/effizienten Unterricht (der wohlgemerkt Schülern AUCH Spaß machen kann, wenn gut durchgeführt) und kompetenzorientiertem Unterricht geht immer weiter auf … (Und gegen Pisa/IGLU/DESI und alle anderen Schulevaluationen vermag es meiner Meinung nach nicht viel zu helfen …)
Georg
Zu diesem Thema, dass hier schön dargestellt wird, erschien vor ca. einem Jahr in der FAZ am Sonntag ein Artikel mit dem Titel „Das pädagogische Tamagotchi“,zu finden unter http://www.becker-tiefenbach.de/Texte/Das%20p%E4dagogische%20Tamagotchi.pdf.
Unbedingt lesen! Empfehlenswert sind auch die Texte von Harald Martenstein zum Thema Schule im Zeit-Magazin.