Gegen „Kompetenzorientierung“ ist im Prinzip ja nichts zu sagen. Sich zu überlegen was Schüler eigentlich können sollen und das dann auch gezielt abzuprüfen, ist ja durchaus vernünftig. Nur treibt das Ganze mittlerweile teilweise merkwürdige Blüten.
Vergleichsweise neu ist z.B. der Wunsch (bzw. der Wahn) nur eine einzige Kompetenz abprüfen zu wollen und alles andere zu ignorieren. Das führt dann dazu, dass z.B. bei Hörverstehensübungen Rechtschreibfehler in den Antworten nicht mehr gewertet, häufig sogar nicht mal mehr markiert werden.
Bei VERA und ähnlichen landes- bzw. bundesweiten Vergleichstests sehe ich das ja noch ein. Die Tests sollen möglichst objektiv und vergleichbar sein, da kann man subjektive Entscheidungen (z.B. Wie lange ist es „nur“ ein Rechtschreibfehler und wann wird es ein Wortfehler) nicht brauchen. Für schulinterne Tests sendet dieses Vorgehen m.E. aber völlig falsche Signale an die Schüler. Plötzlich entstehen Bereiche, in denen richtige Schreibung nicht mehr wichtig ist, man muss nicht mehr Englisch in seinen verschiedenen Ausformungen „können“, sondern nur noch isolierte Teilfertigkeiten wie Hörverstehen, Grammatik usw. beherrschen. Alle diejenigen, die richtig schreiben, fühlen sich „bestraft“, denn es wird ja nicht mehr zwischen richtig und falsch unterschieden.
Auch wenn ich Rechtschreibfehler ignoriere und alles gelte lasse, was auch nur irgendwie Sinn machen könnte, prüft man übrigens nie nur Hörverstehen alleine, sondern immer auch eine gehörige Portion Gedächtnis. Während des Hörens kann man vielleicht gerade noch ein Kästchen ankreuzen, aber im Normalfall nicht mehrere Wörter schreiben. Diese richtigen Antworten muss sich der Schüler merken um sie am Ende aus dem Gedächtnis hinschreiben zu können. Wenn man diese Gedächtnisleistung eliminieren wollte, müsste man nach jedem inhaltlich relevanten Satz stoppen und den Schülern Zeit geben die richtige Antwort hinzuschreiben.
Ähnliches geschieht im Bereich der Grammatik. Meine gemischten Vocab & Grammar Aufgaben sind inzwischen richtig bäääh, denn es wird ja nicht nur „sauber“ NUR die grammatikalische bzw. lexikalische Kompetenz abgeprüft, sondern – oh Graus – beides auf einmal. Es ist noch gar nicht so lange her, dass man sich darauf geeinigt hat, dass Grammatik eine dienende Funktion hat und kein Selbstzweck sein sollte und dass dieser Grundsatz sich auch in Prüfungen widerspiegeln sollte, d.h. dass Grammatik nicht isoliert abgeprüft werden sollte. Jetzt möchte man plötzlich wieder isoliert nur grammatikalische Kompetenz und nichts anderes überprüfen. Was für ein Rückschritt!
In ein paar Jahren wird man dann verkünden, dass die Wissenschaft festgestellt hat, dass das Testen von isolierten Kompetenzen nichts bringt, weil die Sprachwirklichkeit einfach viel komplexer ist und sich diese Komplexität natürlich auch in Prüfungsaufgaben widerspiegeln sollte. Vielleicht erleben wir ja dann sogar ein Revival der „Nacherzählung“, an die sich die älteren Kollegen vielleicht noch aus ihrer eigenen Schulzeit erinnern. Da hätten wir dann ganz viele Kompetenzen anspruchsvoll gebündelt: Hörverstehen, note-taking, Fähigkeit eine Geschichte zu strukturieren, Grammatik, eigener Wortschatz, literarischer Anspruch … usw.
Böse Zungen sagen jetzt natürlich, dass diese neuen Bestimmungen überhaupt nichts mit Didaktik bzw. Methodik zu tun hat, sondern lediglich bessere Noten produzieren sollen, so wie die schwammige Mediation statt der präzisen, anspruchsvollen Übersetzung, die Verwendung zweisprachiger Wörterbücher, das ausuferende Vorrücken auf Probe und vieles andere mehr.
Nachtrag: Passend zu meinem Beitrag ein Artikel über die großen Erfolge von Berliner Schülern. Wir Sprachler sollten uns in dieser Hinsicht (wie immer) an den Mathematikern orientieren, die sind ja schon zum Großteil auf 40% (z.T. sogar darunter) als Schwellenwert für die Note 4 runter. Nur hoffnungslos altmodische Pauker haben ein Problem damit, dass unsere Schüler auf diese Art immer besser werden.
Siehe auch den Beitrag von Thomas Rau über Faktenwissen und Kompetenzen.
Max
Du sprichst mir aus der Seele. Whatever next? 😉
Herr Rau
Stimme auch voll zu. Wenn man Kompetenzen einzeln überprüfen will, kann man bei der Lesediagnose die Rechstchreibung nicht mitbewerten, das ist klar. Wie sinnvoll diese Einzeldiagnose ist, weiß ich nicht. Dieser ganze Kompetenzkram kommt eher aus der Mathematik, denke ich, und wird ziemlich automatisch auf Sprachen übertragen. Kritik am Kompetenzkram gibt es auch:
Bildungsstandards auf dem Prüfstand – Der Bluff der Kompetenzorientierung (http://www.teachersnews.net/artikel/nachrichten/schulleitung/017642.php)
So oder so, in ein paar Jahren gibt es dann wieder ganzheitliche Aufgaben, da stimme ich Jochen voll zu. Zu sinnvoll ist aber die Aufzählung an Kompetenzen: „Hörverstehen, note-taking, Fähigkeit eine Geschichte zu strukturieren, Grammatik, eigener Wortschatz, literarischer Anspruch.“ So detailliert ist da noch nichts. Die Kompetenzen für die 10. Klasse sehen ziemlich allgemein aus:
http://www.herr-rau.de/kompetenzen.png
David Gerlach
Dem kann ich 150%ig zustimmen – so traurig es auch ist.
Natürlich sollte man bei bestimmten Kompetenzüberprüfungen den Hauptschwerpunkt auf die Zielkompetenz legen, aber trotzdem noch lange nicht alles andere vernachlässigen. Das ist auch in meinen Augen für die Schüler ein schlechtes Signal à la „Es reicht, wenn ich verstehe, was gesagt wird, und es aufschreiben kann – aber Sprechen brauch ich ja nicht.“
Und ich befürchte ebenfalls, dass damit insgesamt das Niveau insgesamt deutlich sinken wird, solange man immer solche Ausnahmen zulässt.
Max
Dazu das letzte Wort, vom Großen Vorsitzenden E.S.
http://www.youtube.com/watch?v=du85qeZrAt4
„Wer hat die Kompetenzkompetenz?“
Markus
„die sind ja schon zum Großteil auf 40% (z.T. sogar darunter) als Schwellenwert für die Note 4 runter“
Ja, das wär bestimmt toll. Ich hatte erst heute das Erlebnis dass die Schüler meinten die Aufgaben in meinen Klausuren wären zu Anspruchsvoll (ich hatte es gewagt 30% der Verrechnungspunkte für eine Transferaufgabe zu geben bei der man doch tatsächlich selbst nachdenken musste), und es wäre doch mal darüber nachzudenken ob man mit der Hälfte der Punkte nicht eine bessere Note bekommen könnte – die meisten der Schüler hatten jedoch nicht einmal diese Hälfte der Verrechnungspunkte erreicht…
Gehen wir doch gleich dazu über den Schüler Punkte dafür zu geben dass sie ihren Namen richtig schreiben – und ja, ich habe Schüler die schaffen das nicht … am Gymnasium. Aber ich habe ja auch Oberstufenschüler die mir erzählen dass Flüsse bergauf fließen und im Gebirge enden. Ich glaube die könnten auch so eine Kompetenzkompetenz gebrauchen.
David Gerlach
Ich handhabe es normalerweise in einer dreiteiligen Oberstufenklausur (3 Anforderungsbereiche: 1. Reproduktion, 2. Analyse und 3. Transfer/Creative Writing) in der Regel so, dass ich – sofern auch in der 3. Aufgabe in irgendeiner Form ein Teil Reproduktion vorkommt (z.B. Ergebnisse aus in der Einheit gelaufenen Inhalten, die dann im Transfer auf den Klausurtext übertragen werden o.ä.), dass die Hälfte der Inhalts-Punktzahl für diese Aufgabe (wenn ALLES abgedeckt wurde) gerade 50% ausmacht. Erst wenn dann der reproduktive Teil auch top ist, kann der Schüler/die Schülerin die 100% für diesen dritten Anforderungsbereich erhalten.
Wie machen das anderen Kollegen? Das ist doch im Grunde genommen „normal“, oder etwa nicht?
Max
Das Video
http://www.youtube.com/watch?v=2Dhc2zePJFE&feature=channel
(auf das Lutz Szemkus in ENPAED hinwies)
zeigt, wie ein bemerkenswert gescheiter Primat seine Kompetenzen – ich würde sagen Hörverstehen auf Niveau A1+ der nach oben offenen Europäischen Referenzskala – demonstriert. 😉
Max
Re note-taking
„I am convinced that while laptops have a lot of good uses in the classroom, note taking is not one of them.“
The Benefits of No-Tech Note Taking
A year after banning students from taking notes on laptops, a professor reports on the results.
http://CHRONI.CL/1ALJVWX